
Im Schatten des Turms
Maxi-Kurzgeschichte
Erschienen am 06. Februar 2025
© 2025 Kay Roedel
--- FSK 16 ---
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Die Wellen brachen tosend gegen die Felsküste der kleinen Insel. Der Wind heulte wie ein zorniges Tier, peitschte den Regen über die wenigen Bäume und das Gras, das sich wie ein Teppich über die Landschaft legte. In der Ferne ragte der alte Leuchtturm aus der Dunkelheit auf, sein Licht rotierend und träge, ein trügerisches Versprechen von Sicherheit inmitten der entfesselten Naturgewalten.
Die kleine Gruppe hatte es gerade noch auf die Insel geschafft. Ihr Boot, die alte Barkasse Albatros, lag gekentert am Ufer, das Deck halb unter Wasser. Scharfkantige Steine hatten den Rumpf aufgerissen. Die Passagiere drängten sich eng zusammen, nass bis auf die Knochen, die Gesichter von Kälte und Erschöpfung gezeichnet.
»Los, da vorne! Zum Leuchtturm!«, brüllte Hannes Falk, der Kapitän, gegen den Wind mit seiner rauen Stimme. »Das ist der einzige Schutz, den wir haben!« Mit einem Nicken führte er die Gruppe zum Leuchtturm. Jeder schleppte sich durch den Schlamm. Leonie hielt sich am Arm von Jonas fest, während sie über eine Pfütze stolperte. Der Leuchtturm wirkte aus der Nähe noch massiver, ein Koloss aus Stein, der dem Sturm trotzte. Hannes zerrte an der Holztür, die nachgab, und winkte die anderen herein. »Schnell, bevor wir noch ertrinken!«, knurrte er und trat als Letzter ein. Drinnen umfing sie der Geruch von Feuchtigkeit und Holz. Der runde Raum war spärlich möbliert. Ein paar Kisten, ein Tisch, ein paar Stühle. Über eine Wendeltreppe führte der Weg nach oben, wo der Generatorraum und die Leuchtmechanik untergebracht waren.
»Ich habe diesen Ort vor Jahren mal genutzt«, erklärte Hannes, während er eine Petroleumlampe entzündete. »Nichts Besonderes, aber er hält den Wind draußen.«
Maximilian schnaufte. »Gibt es wenigstens einen Generator? Ich habe ein Geschäft zu führen.«
Hannes warf ihm einen Blick zu, doch bevor er antworten konnte, ergriff Miriam das Wort.
»Wir sollten uns erst mal abtrocknen und eine Bestandsaufnahme machen. Gibt es Proviant?«
»Nur die Kisten in der Ecke«, brummte Hannes und deutete mit dem Daumen hinter sich. Leonie lief hinüber, doch ihre Enttäuschung war spürbar, als sie den Inhalt sah. »Eine Kiste mit Dosen Bohnen und 6 Kisten mit Wasserflaschen. Das war’s.«
»Das reicht für ein paar Tage«, sagte Jonas und strich sich durch das Haar. »Wann können wir mit Hilfe rechnen?«
»Nicht so bald«, antwortete Hannes. »Der Sturm wird die nächsten zwei Tage anhalten, und der Funk fällt aus. Der Generator oben ist alt. Ich kann morgen mal sehen, ob er läuft, aber macht euch keine Hoffnungen. Immerhin funktioniert das Leuchtfeuer.«
Die Gruppe richtete sich so gut es ging ein. Miriam bemerkte, wie Maximilian unruhig auf und ab ging, während Helga sich mit ihren Tarotkarten unter die Treppe zurückzog und murmelnd die Karten legte. Robert saß stumm da, die Augen auf den Regen gerichtet, der gegen das Fenster schlug. Leonie und Jonas stritten leise über etwas, das Miriam nicht verstehen konnte, während Hannes sich an die Wand lehnte und die Augen schloss.
»Wir müssen morgen zusammenarbeiten«, sagte Miriam laut. »Sonst wird es schwer.«
»Richtig«, meinte Maximilian und verschränkte die Arme. »Aber ich sage Ihnen eins: Wenn der Kapitän da nicht bald einen Plan hat, übernehme ich das hier. Ich lasse mich nicht herumkommandieren.«
Hannes öffnete die Augen, aber anstatt zu antworten, verzog er nur den Mund zu einem Lächeln. Miriam spürte, dass er mehr wusste, als er zugab.
In der Nacht hielt der Sturm an. Miriam konnte kaum schlafen. Irgendwann hörte sie Schritte. Hannes schlich zur Tür hinaus, den Mantel um sich gezogen. Miriam beobachtete ihn kurz, bevor sie die Augen schloss. Als sie am Morgen erwachte, war Hannes nicht zurückgekehrt. Jonas’ Schrei hallte über die Insel und wurde vom Wind verschluckt. Die Gruppe stürzte aus dem Leuchtturm, ihre Schritte unsicher auf dem matschigen Boden. Am Fundament des Turms blieben sie stehen. Hannes lag reglos auf dem Rücken, der Regen tropfte auf sein Gesicht. Eine Wunde an seinem Kopf zog Miriams Blick auf sich. Das Wasser, das sich um seinen Körper sammelte, war rötlich gefärbt.
»Er … ist er tot?«, stammelte Jonas. Leonie hielt sich an seinem Arm fest, während sie den Anblick mit geweiteten Augen betrachtete.
Maximilian ging in die Hocke und betrachtete den Körper. »Anscheinend ist er gestürzt«, sagte er kühl. »Der Regen, die Steine …«
»Oder er wurde gestoßen«, unterbrach ihn Miriam. Sie klang ruhig, aber ihre Augen fixierten die Wunde. »Das sieht aus wie ein Schlag.«
Die Gruppe verstummte. Für einen Moment hörte man nur den Regen.
Helga schüttelte den Kopf. »Das war kein Zufall. Der Turm … er hat Geheimnisse. Hannes wusste zu viel.«
»Was soll das heißen?«, fragte Maximilian scharf.
»Sie wissen doch, was ich meine«, antwortete Helga. Mit ihren Fingern fuhr sie über ihre Handtasche, in der ihre Tarotkarten steckten.
Maximilian schnaubte. »Unsinn. Er war unvorsichtig. Wir sollten keine Schauergeschichten erfinden.«
Die Stimmung war angespannt. Der Sturm hatte nicht nachgelassen, und die Enge des Raumes setzte allen zu.
»Wir sollten ihn begraben«, sagte Jonas. »Wir können ihn nicht einfach draußen liegen lassen.«
»Bei diesem Wetter?« Maximilian verschränkte die Arme. »Wir können froh sein, dass der Regen den Körper sauber hält. Und ehrlich gesagt gibt es Wichtigeres zu tun.«
»Wichtigeres?«, wiederholte Leonie entsetzt. »Er war ein Mensch! Und er ist tot! Wie können Sie so kalt sein?«
»Realistisch sein«, korrigierte Maximilian mit einem Lächeln. »Wir sitzen hier fest, ohne Funk, ohne Nahrung. Wir sollten Energie sparen und überlegen, wie wir von der Insel herunterkommen.«
Miriam beobachtete den Streit. Robert saß reglos da, den Blick auf die flackernde Petroleumlampe gerichtet.
»Wir können ihn später begraben«, schlug Miriam vor. »Aber wir sollten darüber sprechen, was letzte Nacht passiert ist.«
»Was soll da passiert sein?«, fragte Maximilian abwehrend.
»Hannes hat das Gebäude verlassen. Warum? Was wollte er da draußen?« Miriam ließ ihren Blick über die anderen wandern. »Hat jemand etwas mitbekommen?«
Alle schüttelten den Kopf, doch Maximilian bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl.
Der Regen hatte nachgelassen, und der Wind tobte weiter gegen die Wände. Helga hatte ihre Tarotkarten ausgelegt und murmelte leise vor sich hin.
»Das hilft uns nicht«, sagte Maximilian abfällig.
»Vielleicht sehen die Karten Dinge, die wir nicht sehen«, entgegnete Helga und sah ihm direkt in die Augen.
Miriam zog sich etwas zurück und öffnete ihr Notizbuch. Etwas an Maximilians Verhalten machte sie misstrauisch. Seine Art war ihr schon vorher aufgefallen, doch jetzt wirkte er nervös, als würde er etwas verbergen.
Miriam konnte nicht schlafen, obwohl es bereits mitten in der Nacht war. Ein Geräusch kam von oben aus dem Generatorraum. Sie schlich zur Wendeltreppe und spähte nach oben. Die Tür war verschlossen, doch sie war sich sicher, dass sie tagsüber offen gewesen war. Am nächsten Morgen wurde es merkwürdiger. Jonas wollte den Generator überprüfen, doch der Schlüssel zum Generatorraum war verschwunden.
»Jemand hat ihn genommen«, sagte er und musterte die anderen.
»Oder verloren«, murmelte Maximilian. »Das passiert, wenn man Chaos hat.«
Doch Miriam glaubte nicht an Zufall. Der Generatorraum war entscheidend, wenn sie das Funkgerät wieder in Gang bringen wollten. Und jemand hatte absichtlich den Zugang versperrt.
Der Morgen brach grau über der Insel an. Die Gruppe war still, während sie sich um den Holztisch im Erdgeschoss des Leuchtturms versammelte. Der Sturm hatte nachgelassen, doch die Unruhe blieb. Das Verschwinden des Schlüssels für den Generatorraum verstärkte die Anspannung.
»Jemand hier weiß, wo der Schlüssel ist«, begann Jonas. »Und ich werde nicht zulassen, dass wir uns gegenseitig sabotieren.«
Maximilian verdrehte die Augen. »Vielleicht hatte Hannes den Schlüssel bei sich, als er starb. Er könnte draußen liegen.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Miriam. »Ich habe letzte Nacht Schritte gehört. Jemand war oben, nachdem alle schlafen gegangen sind.«
Alle drehten sich zu ihr, doch niemand sprach.
Maximilian verzog das Gesicht. »Und das reicht für einen Verdacht? Wollen Sie behaupten, jemand hätte den Schlüssel gestohlen?«
»Ich werfe niemandem etwas vor«, sagte Miriam und ließ den Blick über die Gruppe wandern. »Aber der Generator ist unsere einzige Chance, ein Signal abzusetzen. Wer ihn verriegelt hat, wollte verhindern, dass wir Hilfe rufen.«
Die Gruppe begann, den Leuchtturm zu durchsuchen. Sie durchwühlten die Kiste mit Vorräten, die Betten und selbst die Taschen der anderen. Doch der Schlüssel blieb verschwunden.
Während sie suchten, beobachtete Miriam, wie Robert mechanisch durch den Raum ging. Seine Bewegungen waren langsam, sein Gesicht regungslos. Leonie und Jonas suchten draußen am Leuchtturm. Sie fanden keine Spur des Schlüssels, aber Fußabdrücke führten von dort zu den Felsen am nördlichen Strand.
»Glaubst du, dass Hannes …?« Leonie zögerte.
Jonas schüttelte den Kopf. »Hannes wusste oder sah etwas. Und ich glaube, diese Spuren gehören seinem Mörder.«
Am späten Nachmittag durchbrach ein Ruf die Stille. »Hier oben! Kommt schnell!«, rief Helga aus dem oberen Stockwerk.
Die Gruppe eilte hinauf. Helga stand bleich neben einem alten Koffer mit Blutflecken, der hinter einer Holzkiste versteckt war. Maximilian schnappte ihn sich, öffnete ihn und verlies den Raum. Drinnen lagen ein Kompass, ein Tagebuch – und der verschwundene Schlüssel. Doch das war nicht alles. Am Boden des Koffers lag ein blutiges Tuch.
»Das ist Hannes' Blut«, flüsterte Leonie.
Miriam blätterte durch das Tagebuch. Die Einträge stammten von Hannes, doch je weiter sie las, desto unverständlicher wurden die Texte. Er schrieb von »dunklen Wahrheiten«, »Schuld« und »Geheimnissen, die die Insel nicht preisgeben darf«.
Bevor sie darüber sprechen konnten, ertönte ein Schrei von draußen. Am Rand der Klippen lag Maximilian, blutüberströmt, mit gebrochenem Genick. Miriam spürte, wie ihr Herz raste. Der Regen hatte seine Kleidung durchnässt, doch die Spuren eines Kampfes waren deutlich.
»Das war kein Unfall«, sagte Jonas keuchend. »Er wurde gestoßen.«
»Aber von wem?«, flüsterte Leonie.
Die Gruppe stand unter Schock. Maximilian, eben noch überheblich, war nun tot. Und es war klar – nicht der Sturm hatte ihn getötet.
Zurück im Leuchtturm kehrte eine eisige Stille ein. Jeder schien tief in Gedanken versunken. Miriam spürte, wie die Dynamik innerhalb der Gruppe sich veränderte. Jeder misstraute jedem.
Helga begann erneut, ihre Karten zu legen, und murmelte etwas über eine »dunkle Gestalt, die uns verfolgt«. Jonas und Leonie saßen dicht nebeneinander, während Robert weiterhin schweigend an der Wand lehnte.
»Wir müssen hier weg«, sagte Jonas schließlich. »Wir können nicht einfach sitzenbleiben und darauf warten, dass noch jemand stirbt.«
»Und wie genau stellen Sie sich das vor?« entgegnete Miriam scharf. »Das Boot ist unbrauchbar, der Generator funktioniert nur eingeschränkt, und wir haben keine Möglichkeit, ein Signal zu senden. Wir sind auf dieser Insel gefangen – und einer von uns ist ein Mörder.«
Der Streit war laut und heftig. Robert hatte sich gegen Jonas gestellt, ihn beschuldigt, den Schlüssel versteckt zu haben. Jonas schrie zurück, die Anspannung der letzten Tage brach sich Bahn. Niemand griff ein. Jeder wusste, dass Worte allein die Lage nicht mehr retten konnten.
Dann, als Ruhe eingekehrt war, war Robert verschwunden. Am Anfang dachte die Gruppe, er hätte sich zurückgezogen, irgendwo auf die Treppe oder draußen vor dem Turm. Doch nach ein paar Stunden wurde die Unruhe greifbar. Miriam schlug vor, zu warten, doch Leonie bestand darauf, nach ihm zu suchen. Mit der Petroleumlampe tasteten sie sich durch die Dunkelheit. Der Sturm hatte sich gelegt, doch der Wind ließ die Bäume rauschen. Jede Bewegung in diesem schwierigen Gelände war eine Qual. Sie riefen Roberts Namen, doch keine Antwort kam. Irgendwann gaben sie auf. Jonas saß bis tief in die Nacht am Tisch und starrte auf die flackernde Petroleumlampe. Leonie beobachtete ihn verstohlen. Zweifel nagten an ihr. Hatte sie sich geirrt? Konnte Jonas wirklich für Hannes‘ Tod verantwortlich sein?
Der Morgen brachte keine Erleichterung. Miriam war die Erste, die das Wasserbecken entdeckte. Es lag etwas abseits der Klippe, dort, wo das Gelände uneben und tückisch wurde. Ihr Schrei zerriss die Stille. Die anderen, die draußen vor dem Turm die morgendliche Wärme der Sonne genossen, rannten in ihre Richtung und fanden sie am Rand des Beckens. Ihr Blick war auf das Wasser gerichtet. Darin lag Robert. Sein Körper trieb reglos, das Wasser um ihn verfärbt vom Blut. An seiner Kehle klaffte eine Wunde. Leonie keuchte, hielt sich an Jonas‘ Arm fest. Niemand sprach. Es war kein Unfall. Kein Streit, der eskaliert war. Das hier war Mord. Jonas trat näher, sein Gesicht hart.
»Jemand hat ihn umgebracht.« Miriam kniete sich hin, betrachtete den Körper, ohne das Wasser zu berühren. Die Wunde war präzise gesetzt. Kein hastiger Angriff, sondern eine bewusste, schnelle Tat.
»Das kann kein Zufall sein«, sagte sie leise. »Er wusste etwas.«
Leonie sah zu Jonas, dann zu Miriam. »Du denkst, das hängt mit Maximilian zusammen, oder?«
Miriam nickte. »Hannes war der Erste. Dann Maximilian. Jetzt Robert. Und wer …« Sie ließ den Satz unbeendet. Die Gruppe zog sich in den Leuchtturm zurück. Die Stimmung war bedrückend. Niemand wusste, wer als nächstes sterben würde.
Die Nacht war lang und voller Anspannung. Der Sturm hatte sich gelegt, doch die Luft im Leuchtturm blieb schwer. Niemand sprach, jeder wusste, dass der Mörder noch unter ihnen war. Es war Miriam, die am Morgen als Erste sprach. »Wir müssen reden«, sagte sie, während sie die anderen musterte. Ihr Blick ließ keinen Widerspruch zu. »Zu viele Zufälle. Zu viele Geheimnisse. Es ist Zeit, dass jeder sagt, was er weiß.«
Leonie verschränkte die Arme. »Du tust ja so, als hätten wir hier ein Netz aus Lügen.«
»Haben wir doch auch.«
Maximilian und Robert sind tot. Hannes auch. Drei Männer, die einander kannten – nicht nur von dieser Reise. Miriam erinnerte sich an die Notizen aus Hannes’ Tagebuch. An die seltsamen Andeutungen und an den losen Ziegelstein im Generatorraum.
»Ich will euch etwas zeigen.«
Gemeinsam gingen sie zum Generatorraum hoch. Es lag ein leichter Geruch von Maschinenöl in der Luft. Miriam ging zur Wand, tastete über die Ziegel, bis sie den richtigen fand. Vorsichtig zog sie ihn heraus. Dahinter lag eine Metallkassette. Verstaubt, rostig, doch der Inhalt war gut erhalten. Ein paar vergilbte Dokumente, ein alter Schlüssel und ein verblichenes Foto. Vier Männer standen darauf in ihrer Arbeitskleidung. Drei davon waren tot. Der vierte war der verschwundene Leuchtturmwärter.
Jonas runzelte die Stirn. »Was zum Teufel ist das?«
»Ein Beweis«, sagte Miriam. Vor acht Jahren waren Hannes, Maximilian und Robert hier. Sie haben etwas getan. Etwas, das vertuscht werden musste.«
Helga nahm das Foto. Ihre Finger zitterten leicht. »Dieser Mann … er war der Wärter dieses Leuchtturms.«
Leonie nahm die Dokumente in die Hand und begann zu lesen. Es war ein Bericht über Wartungsarbeiten am Generator. Doch zwischen den Zeilen fand sie eine Notiz. »Er weiß zu viel. Wir können es nicht riskieren.«
Jonas wich zurück. »Wollt ihr mir sagen, dass … dass sie diesen Mann umgebracht haben?«
»Nicht nur das«, sagte Miriam leise. »Sie haben ihn hier verschwinden lassen.«
Die Stille nach ihren Worten war erdrückend. Die See schlug gegen die Felsen, als wollte sie eine Bestätigung geben.
»Er ist nie gegangen«, murmelte Helga schließlich. »Seine Seele ist noch hier.«
Maximilian hatte die Existenz von Geistern stets belächelt. Doch er ist gestorben und jemand oder etwas hatte ihn getötet. Ich hab es in meinen Karten an dem Abend gelesen, als er zu mir so herablassend meinte: »Das hilft uns nicht.«
»Das ist Wahnsinn«, sagte Leonie, doch ihre Stimme war brüchig. »Das kann nicht sein.«
»Und doch sterben wir einer nach dem anderen«, erwiderte Helga. »Er will hier keine Eindringlinge und er hat noch nicht aufgehört.«
Ein kalter Windzug fuhr durch den Raum und ließ die alte Petroleumlampe flackern. Miriam nahm den Schlüssel aus der Kiste. »Wir müssen wissen, was er verschlossen hat.«
Keiner widersprach. Denn inzwischen fürchteten sie alle dieselbe Wahrheit. Miriam drehte den alten Schlüssel in ihrer Hand. Er war schwer, kalt, aus dunklem Metall. Die Kiste, in der sie ihn gefunden hatten, war seit Jahren unberührt gewesen – genauso wie das, was er verschloss.
»Wir müssen herausfinden, wofür dieser Schlüssel ist«, sagte sie schließlich.
Die anderen schwiegen, doch keiner widersprach. Der Sturm hatte nachgelassen, aber das flaue Gefühl in ihren Mägen blieb. Sie waren nicht mehr sicher. Weder im Leuchtturm noch außerhalb.
Jonas nahm die Kiste mit den Dokumenten und das alte Foto. »Wenn der Wärter getötet wurde, dann gibt es irgendwo einen Ort, an dem sie ihn versteckt haben.«
Miriam nickte. »Er muss irgendwo hier auf der Insel sein.«
Leonie zögerte. »Und wenn es besser ist, es nicht zu wissen?«
Helga schüttelte den Kopf. »Er lässt uns nicht gehen. Nicht, solange wir es nicht erfahren haben.“
Die Gruppe machte sich auf die Suche nach einem Schloss, das zum Schlüssel passte, und fing im Leuchtturm an. Der Leuchtturm war alt, voller Spuren vergangener Jahre. Sie überprüften Türen, alte Truhen, sogar den Generator selbst. Doch nichts passte. Dann, nach einer Stunde des Suchens, entdeckte Jonas hinter einem Regal im Lagerraum, halb von einer losen Holzwand verdeckt und kaum sichtbar, eine verborgene Tür.
Miriam trat vor und schob den Schlüssel ins Schloss. Einen Moment zögerte sie – dann drehte sie ihn langsam. Ein dumpfes Klicken. Die Tür ließ sich schwer öffnen. Dahinter lag eine enge, feuchte Kammer. Der Geruch von Verfall schlug ihnen entgegen.
Helga machte ein scharfes Geräusch, als ihr Blick auf die am Boden liegende, skelettierte Leiche fiel.
Die Knochen waren dunkel verfärbt, von Zeit und Feuchtigkeit gezeichnet. Aber die Reste der Kleidung waren noch zu erkennen.
»Mein Gott …«, flüsterte Leonie.
Jonas trat näher, hob eine alte Metallplakette auf, die neben den Knochen lag. Der Name war noch lesbar. Johann Meisner.
»Der Leuchtturmwärter«, sagte Miriam leise.
Ein tiefer Schauder lief ihnen über den Rücken. Acht Jahre lang hatte er hier gelegen. Abgelegt wie Müll, weggesperrt und vergessen.
»Sie haben ihn getötet und hier versteckt«, sagte Jonas. »Aber wieso?«
Miriam blätterte durch die alten Papiere. Dann fand sie, wonach sie suchte.
Ein Bericht über einen Unfall. Ein Mechaniker war damals auf die Insel gekommen, um den Generator zu warten. Doch er war nie zurückgekehrt mit der Barkasse Albatross. Das Unternehmen hatte die Akte geschlossen – offiziell galt er als auf See verschollen.
»Er wusste es«, sagte Miriam. »Der Wärter wusste, was mit dem Mechaniker passiert war. Und Maximilian, Hannes und Robert haben ihn zum Schweigen gebracht.«
Helga wich zurück. »Und jetzt nimmt er sich jeden, der die Insel betritt.«
Dann hörten sie ein leises Knarzen von irgendwo in der Dunkelheit herkommen.
»Wir … wir sollten hier raus«, flüsterte Jonas. Sie ließen den Leichnam zurück und schlossen die Tür. Doch die Stille fühlte sich anders an als vorher. Sie wussten nun die Wahrheit. Aber sie wussten auch: Der Geist des Wärters war noch hier. Und er war nicht fertig mit ihnen.
Der Regen hatte den Leuchtturm fast die ganze Nacht über in ein düsteres Licht getaucht, und als der Morgen anbrach, war das graue Licht kaum heller als die Nacht. Leonie saß am Tisch und starrte auf die kalte Wand. Die anderen waren schweigsam, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Die Erlebnisse der letzten Tage hatten sie erschüttert. Sie wussten nun, dass sie nicht nur mit Mördern zu tun hatten, sondern auch, dass sie gegen den Geist eines Mannes antreten mussten, der schon seit Jahren tot war. Ein Mörder, der sich an jedem rächt, der sich der Insel nähert.
Leonie stand auf und ging zum Fenster. Draußen lagen die Klippen wie eine dunkle Wand, der Ozean donnerte gegen die Felsen. Es war, als würde das Meer selbst um sie kämpfen. Der Leuchtturm war das einzige Gebäude auf der Insel, eine unwirtliche Festung im Wind, und doch war es nicht mehr sicher, hier zu sein.
»Wir müssen einen Plan machen«, sagte Helga, die plötzlich hinter ihr auftauchte. »Wir können hier nicht bleiben. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird uns dieser … Geist einen nach dem anderen holen.«
Leonie nickte, doch eine dunkle Ahnung hatte sich in ihr eingenistet. Sie fühlte sich beobachtet, konnte aber nicht bestimmen, von wem.
»Vielleicht … vielleicht ist es an der Zeit, zu verschwinden«, sagte Leonie, mehr zu sich selbst. »Vielleicht ist das der Weg, ihn zu beruhigen.« Doch der Gedanke hatte keinen Trost. Sie wussten alle, dass der Geist des Leuchtturmwärters nicht aus Mangel an Rache handelte, sondern aus einem tiefen Hass. Ein Hass gegen diejenigen, die das Geheimnis der Insel entdeckten. Plötzlich knallte die Tür zum Raum auf.
»Jemand kommt!«, rief Jonas und stürmte atemlos in den Raum, sein Blick wirkte wie der von einem gehetzten Tier. »Er ist hier!«
»Wer?«, fragte Miriam, die sich sofort erhob, als sie den panischen Blick in seinen Augen sah und schloss die Tür.
»Der Wärter. Ich habe ihn gesehen. Er … er hat die Treppe hochgeschaut und dann verschwand er einfach. Aber er war dort!« Jonas war offensichtlich außer sich, sein Gesicht blass, als wäre er im Angesicht des Geistes gestanden.
»Komm erst mal rein und beruhige dich etwas. Es gibt keine Geister. Lass dich nicht von Helgas Kartenlegerei …«,
»Es ist real!«, rief Jonas und unterbrach sie. »Es ist real!«
Leonie warf einen Blick auf die anderen, doch keiner von ihnen war in der Lage zu antworten. Die Erlebnisse der vergangenen Tage waren einfach zu viel.
»Wir müssen hier raus«, rief Jonas, der immer noch atemlos im Raum stand und wild mit seinen Armen gestikulierte. »Wenn wir jetzt nicht sofort gehen, sind wir alle verloren.«
Jonas drehte sich um und ging mit zwei großen Schritten auf die Tür zu. Er packte mit seiner Hand den Türgriff und sah nach hinten in den Raum hinein. »Jetzt!«, rief er ein letztes Mal. Dann, als er den Türgriff nach unten drückte, schien sein Herz einen Schlag lang auszusetzen. Die Stille in der Luft war fast greifbar. Leonie konnte es kaum fassen. Ihr Herz raste. Es war, als hätten sich die Wände des Leuchtturms in eine Falle verwandelt. Der Geist war nie weit, immer nur einen Schritt entfernt. Und dann, plötzlich, hörten sie es. Ein leises, heiseres Flüstern. Es kam nicht von Jonas. Es kam von der Dunkelheit, die die Tür verschluckte.
»Es ist … er spricht zu uns.«, flüsterte Miriam.
Im nächsten Moment war der Raum erfüllt von einem schrillen, schneidenden Geräusch. Die Tür schien förmlich explodiert zu sein und der Leuchtturm verwandelte sich in einen Alptraum. Der Geist war überall.
Leonie konnte den Druck auf ihrer Brust fühlen, als sie nach hinten gedrückt wurde. Ihre Hände suchten Halt, aber sie fand nur die Dunkelheit des Raumes. Der Wind fegte durch die Räume. „Ich will nicht sterben“, kreischte sie voller Verzweiflung.
Doch es war zu spät. Das Dröhnen des Sturms, der sich immer schneller drehte, wurde von einem finalen, durchdringenden Schrei überlagert. Ein scharfer, kalter Hauch riss sie zu Boden. Das letzte, was Leonie sah, war der bleiche, leere Raum vor ihr. Dann … nur noch Dunkelheit. Der Leuchtturm war wieder still.
Die Stille nach Leonies Schrei war fast unerträglich. Der Leuchtturm stand wieder reglos in der Dunkelheit, als wäre nichts geschehen. Der Wind schlug gegen die Mauern, doch im Inneren lag nur noch das Echo der Angst. Miriam rückte vorsichtig von der Wand ab, ihr Atem ging schwer. Der Körper von Leonie lag reglos auf dem Boden, das Blut bildete einen dunklen Fleck auf den Holzbohlen. Jonas stand zitternd daneben, seine Augen waren weit aufgerissen, unfähig, den Blick von Leonies leblosen Körper abzuwenden. Helga setzte sich auf den Boden, neben den Treppenaufgang. Sie murmelte unverständliche Worte, während ihre zittrigen Finger durch die Luft fuhren, als würde sie etwas Unsichtbares ertasten. »Wir sind nicht allein«, hauchte sie. »Er ist noch hier.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Nein. Nein! Das kann nicht sein.« Seine Stimme brach. »Wir müssen hier raus. Jetzt sofort!« Er drehte sich zur Tür, doch bevor er den Raum verlassen konnte, schlug ein gewaltiger Wind stoßartig durch den Turm. Die Flamme der Petroleumlampe flackerte heftig, dann erlosch sie.
Die Dunkelheit war vollkommen.
Ein eisiges Flüstern kroch durch den Raum. »Ihr … habt … hier … nichts … verloren …«
Miriam spürte, wie eine unsichtbare Kälte ihre Haut streifte. Sie keuchte, während Jonas taumelte und gegen die Wand prallte. Helga stand vornübergebeugt, ihre Lippen formten stumme Worte. »Er wird uns nicht gehen lassen«, flüsterte sie.
Plötzlich ein Kreischen. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und raste auf Jonas zu. Er konnte nicht einmal schreien. Eine unsichtbare Kraft riss ihn von den Beinen, schleuderte ihn gegen die Wand und ließ ihn reglos zu Boden sinken. Sein Kopf lag in einem merkwürdigen Winkel. Einen kurzen Moment herrschte Totenstille.
»Nein!«, schrie Miriam. Sie griff nach Jonas, doch er atmete nicht mehr.
Helga begann hektisch in ihrer Tasche zu wühlen. »Wir können ihn vielleicht bannen«, flüsterte sie. Ihre Hände zogen die Tarotkarten hervor. »Vielleicht können wir seinen Namen …«
Ein gewaltiger Windstoß durchbrach ihre Worte. Die Karten wurden aus ihren Fingern gerissen und flogen durch den Raum. Helga starrte auf das stumpfe Ende ihres Unterarmes, da, wo eben noch ihre Hand gewesen war. Dann wurde sie von einer unsichtbaren Kraft gepackt. Helga kreischte in Todespanik, als sie durch die Luft geschleudert wurde und mit einem markerschütternden Krachen auf die Stufen des Treppenaufgangs prallte. Ihr Körper blieb leblos auf den Treppen liegen.
Miriam war die Letzte. Ihr Herz raste. Sie rückte langsam zurück, bis sie die Wand hinter sich spürte. Sie wusste, dass es kein Entkommen gab. »Warum tust du das?«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Was willst du?«
Ein Schatten formte sich vor ihr. Schemenhaft, aber deutlich genug, um die Konturen eines Mannes zu erahnen. Die groben Züge eines Gesichtes. Eine Stimme, die nicht von dieser Welt war, flüsterte: »Niemand … darf … bleiben.« Der Wind heulte auf. Der Schatten stürzte auf Miriam zu.
Sie hatte keine Zeit mehr zu schreien.
ENDE