Der letzte Wunsch © 2025 Kay Roedel
Josephs Hände lagen reglos auf dem Tisch. Seine Finger, knorrig und dünn wie alte Äste, ruhten auf dem kühlen Holz, während der Teller mit dem dampfenden Germknödel vor ihm stand. Der Geruch war vertraut, doch er rührte ihn nicht an. Nicht, weil er keinen Hunger hatte – sondern weil es keinen Unterschied machte. Essen war eine Notwendigkeit, aber ohne Freude, ohne Gesellschaft, ohne Bedeutung. Sein Herz fühlte sich an wie ein leeres Zimmer, aus dem man alle Möbel entfernt hatte. Heute war sein 89. Geburtstag. Ein Tag, der einmal gefüllt war mit Kinderlachen, mit warmen Händen, die seine hielten, mit Stimmen, die seinen Namen liebevoll riefen: »Papa«. Jetzt war da nur Stille.
Sein Blick wanderte durch den Raum. Menschen saßen an ihren Tischen, einige sprachen leise miteinander, andere starrten ins Leere. Eine alte Dame summte eine Melodie, ein Pfleger eilte vorbei, ein Fernseher spielte eine Sendung, die niemand wirklich verfolgte. Irgendwo lachte jemand. Aber das Lachen gehörte nicht ihm. Er schluckte. Der Kloß in seiner Kehle war nicht vom Essen. Er wartete. Wartete auf das Klingeln des Telefons. Auf eine Nachricht. Auf eine Stimme, die sagte: »Alles Gute zum Geburtstag, Papa«. Doch nichts kam. Die Uhr an der Wand tickte unaufhörlich, jeder Sekundentick ein Schlag gegen sein Herz.
»Wo seid ihr?«, wollte er fragen. »Denkt ihr überhaupt noch an mich?«, aber da war niemand. Seine Kinder hatten ihn hierhergebracht. »Zu deinem eigenen Besten«, hatten sie gesagt. Und dann waren sie gegangen. Aus Wochen waren Monate, Jahre geworden. Anrufe kamen immer seltener, dann gar nicht mehr.
Joseph versuchte, nicht wütend zu sein. Wut war etwas für die Jungen, die noch Kraft hatten, etwas zu verändern. Was blieb ihm? Nur die Traurigkeit der Einsamkeit. Sie war sein ständiger Begleiter, legte sich nachts auf seine Brust, wachte morgens mit ihm auf, saß mit ihm an diesem Tisch.
Er blickte auf seine Hände. Diese Hände hatten seine Kinder gehalten, wenn sie unsicher ihre ersten Schritte taten. Sie hatten Pflaster auf aufgeschlagene Knie geklebt, Decken über kleine, schlafende Körper gezogen. Sie hatten gearbeitet, gezittert vor Erschöpfung, um ein Zuhause zu bauen – für eine Familie, die ihn nun vergessen hatte. Etwas Warmes sammelte sich hinter seinen Augen, doch er blinzelte es weg. Er war müde vom Weinen.
Dann – eine Berührung. Eine Hand legte sich vorsichtig auf seine. Warm, fest, lebendig. Joseph zuckte zusammen, sah auf. Ein junger Pfleger stand neben ihm. Seine Augen – braun, sanft, voller etwas, das Joseph fast nicht mehr erkannte: Mitgefühl.
»Joseph …« Die Stimme des jungen Mannes war zögernd, aber ehrlich. »Ich weiß, dass ich nicht Ihre Familie bin … aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gerne zu Ihnen setzen. Vielleicht können wir zusammen diesen einen Germknödel essen?«
Joseph sah ihn an. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und für einen Moment konnte er nicht sprechen. Ein Kloß, schwerer als jeder zuvor, saß in seiner Kehle. Dann nickte er. Ganz leicht, fast unmerklich. Der junge Mann lächelte – nicht das distanzierte Lächeln der Pfleger, die wussten, dass ihr Tag bald vorbei war, sondern ein echtes, warmes Lächeln. Er setzte sich, nahm eine Gabel, schnitt den Germknödel in der Mitte durch und schob Joseph einen Teil hin. Josephs Finger zitterten, als er nach der Gabel griff. Er nahm den ersten Bissen. Der Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus – vertraut, sanft, ein Echo von Erinnerungen. Und plötzlich, ganz plötzlich, fühlte er es: Wärme. Nicht die vollständige, alles umschließende Wärme, die Familie einst für ihn bedeutete, aber ein Funke davon. Ein kleines, zögerndes Licht in der Dunkelheit. Er sah den jungen Mann an.
»Danke«, flüsterte er. Es war nur ein einziges Wort. Aber für Joseph war es sehr viel mehr. Es war alles.
Erschienen am 04. März 2025.