Regentropfen (c) 2024 Kay Roedel
Der Regen fiel in einem gleichmäßigen Rhythmus, als ob die Welt in einem sanften Herzschlag atmete. Die Straße war leer, nur die Lichter der Laternen spiegelten sich in den Pfützen, die sich langsam auf dem Asphalt sammelten. Lena zog den Mantel enger um ihre Schultern, der Stoff war längst durchnässt. Sie hatte kein Ziel, nur das Bedürfnis, zu gehen, zu fliehen – vor den Gedanken, die unaufhörlich in ihrem Kopf kreisten. Die letzten Wochen hatten Spuren hinterlassen. Zu viele Abschiede, zu viele Wunden, die kaum verheilt waren. Sie spürte die Schwere in ihrer Brust wie einen unbewegbaren Stein, der sie nach unten zog.
Ihre Schritte waren träge, ihre Schultern hingen. Der Regen prasselte auf sie herab, doch sie fühlte ihn kaum. An einer Kreuzung blieb sie stehen. Vor ihr ragte ein mächtiger Baum auf, sein Geäst dunkel gegen den grauen Himmel gezeichnet. Lena lehnte sich gegen eine nassen Wand und schloss die Augen. Sie atmete tief ein, wollte sich in der Kühle des Regens verlieren, wollte die Leere ausfüllen, die sich in ihr ausgebreitet hatte. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf ein einzelnes Blatt, das vom Baum herabhing. An seiner Spitze zitterte ein Regentropfen, so groß, dass er sich kaum noch halten konnte. Er leuchtete im fahlen Licht einer Laterne wie ein kleiner Kristall. Sie trat näher heran, als hätte der Tropfen sie gerufen. Ihre Gedanken verstummten für einen Moment, und sie sah nur diesen winzigen, schimmernden Punkt, wie er kämpfte, sich festzuhalten, nicht zu fallen. Jeder Atemzug, jede Bewegung schien ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Plötzlich löste er sich und der Tropfen fiel. Er schien für einen Augenblick schwerelos zu sein, bevor er lautlos auf den Boden traf und verschwand. Lena spürte, wie eine Träne über ihre Wange lief. Sie wusste nicht, warum, wusste nur, dass sie etwas in diesem Moment verstanden hatte. Vielleicht war es die Vergänglichkeit, die der Tropfen ihr gezeigt hatte, die flüchtige Schönheit, die alles durchdrang, oder vielleicht war es die Gewissheit, dass selbst in der Dunkelheit des Regens etwas leuchten konnte.
Der Stein in ihrer Brust fühlte sich leichter an, nicht weg, aber verschiebbar. Sie blickte in den Himmel, ließ den Regen ihr Gesicht küssen und inmitten dieses Moments, so klein und bedeutungslos er für die Welt sein mochte, fühlte sie eine leise Hoffnung in sich aufkeimen. Der Regen fiel weiter, aber Lena begann, ihn zu spüren – jeden einzelnen Tropfen.
Erschienen am 19. Dezember 2024.